Likst du noch oder liebst du schon?

Yes! Nach fünfzigmaligem Knipsen, Posen ändern und Haare richten habe ich es endlich im Kasten: Das perfekte Foto. Für wen? Natürlich für Instagram. Schließlich warten dort 600 Personen darauf, mich in meinem bunt gemusterten Jumpsuit zu bewundern.
Noch schnell ein bisschen Schatten hier, mehr Sättigung da und ab damit auf die soziale Plattform. Aber Moment mal, ist gerade eine gute Uhrzeit? Sitzen jetzt nicht alle in der Arbeit? Vielleicht warte ich lieber noch ein bisschen, abends gibt es bestimmt mehr Likes.
Und welche Hashtags soll ich setzen? Es soll ja nicht verzweifelt klingen. Aber ein bisschen mehr Reichweite wäre natürlich auch nicht schlecht. Na gut, fünf Stück klingen nach einem guten Mittelweg.
19:00 Uhr: Der Zeitpunkt ist gekommen. Ich lade mein Bild mit samt der Hashtags hoch. Und dann? Dann warte ich. Ein Like, zwei Likes, drei Likes… Die kleine schwarze Zahl unter meinem Bild wächst. Sie steigt zwar langsam, aber immerhin.
57 Likes. War‘s das etwa schon? Etwas verdutzt gucke ich auf die Uhr. Schon zwei Stunden vergangen. Verdammt, war wohl doch die falsche Uhrzeit. Oder vielleicht liegt es an den Hashtags? Wer weiß.
Grummelig lege ich mein Smartphone auf die Seite. Verdammte soziale Netzwerke.

Diese kleine Story ist nicht etwa eine Anekdote aus einem Kinderbuch über soziale Medien. Es sind meine eigenen Gedanken, die ich – mit leichtem Entsetzen – in meinem Kopf erhascht habe.
Soziale Medien wie Instagram nehmen einen bedeutenden Teil in unserem Alltag ein. Die meisten von uns wachen mit ihnen auf und schlafen mit ihnen ein. Wir teilen Stories, Bilder, Videos und geben mehr von uns Preis als uns manchmal bewusst ist.
Und verdammt noch mal: Wir lieben es! Die Plattformen geben uns die Möglichkeit mit Leuten in Verbindung zu bleiben und andere an unserem Leben teilhaben zu lassen. Selbstdarstellung hin oder her, der Mensch sehnt sich nach Anerkennung. Und auf Instagram bekommt er sie.
Oft habe ich aber das Gefühl, dass wir vergessen, worauf es wirklich ankommt. Wir liken was das Zeug hält, aber lieben wir auch wirklich, was wir sehen?
Ich bekenne mich schuldig: Ich scrolle gerne den Instagram Feed für eine Weile hinunter und tippe mit meinem Finger doppelt auf viele der Fotos. Hand aufs Herz? Würdest du mich fragen, was auf den letzten Bildern zu sehen war: Ich würde vermutlich nur noch zwei davon im Kopf haben.
Wir wischen die Erinnerungen anderer im Sekundentakt ins Nirgendwo. Gesehen, gelikt, weiter geht’s. Warum? Weil alles immer schneller und rasanter wird. Ist dir schon mal aufgefallen, wie viele Eindrücke du am Tag bekommst? Ich meine so im echten Leben? Hinzu kommen die ganzen Momente auf sozialen Medien. Klar, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne darunter leidet.
Dabei könnten Instagram und Co. so wunderbare Plätze der Vielfalt und Liebe sein. Wir müssen nur lernen, sie wieder bewusster wahrzunehmen. Dazu gehört ein bisschen Disziplin, ich weiß. Aber versuch doch einfach mal, beim nächsten Insta-Check jedes Bild kurz auf dich wirken zu lassen. Oder bei Facebook die Überschriften wirklich zu lesen. Oder bei Twitter die Bedeutung richtig zu verstehen.
Was siehst du? Wen siehst du? Wie ist die Stimmung? Wie wirkt das Bild und der Text auf dich? Fühlst du etwas dabei? Gefällt es dir? Ja, liebst du es?
Eigentlich ist das gar nicht so schwer. Du wirst sehen: Es gibt so vieles mehr zu entdecken. Und ist ein ehrliches Like nicht tausendmal mehr wert als 50 flüchtige Tapser auf einem Bildschirm?
Janina